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An den „frei erzogenen“ Flegel im Railjet

Ich sitze im Zug von Bregenz zurück in die Heimat. Es ist Nachmittag. Ich bin an diesem Tag früh aufgestanden und habe ein langes Interview hinter mir. Und eigentlich bin ich noch vom Vortag erschöpft.

Das Abteil ist schwach belegt. Ich sitze auf einem Viererplatz mit Tisch, damit ich arbeiten kann. Der Viererplatz neben mir ist leer. Schräg hinter mir ein Typ mit gelben Kapuzenpulli, dunkle Haare. Ungefähr Ende zwanzig, Anfang dreißig. Goldener Ring an der linken Hand. Riesige Kopfhörer, mit seinem Laptop beschäftigt. Ich freue mich über die Ruhe. Lärm kann ich jetzt am wenigsten gebrauchen. Ich packe Diktiergerät und Kopfhörer aus, speichere die Interviews auf den Laptop und fange an, sie anzuhören und in ein Word-Dokument zu klopfen.

Trotz der Kopfhörer nehme ich wahr, wie eine Frau über das Kinderkino spricht, dass sich in diesem Abteil befindet. Typisch. Das Abteil wechseln will ich aber auch nicht, denn ich habe meinen Platz schließlich reserviert.

Es kommt, wie es kommen muss. Ein Vater und seine Kinder steigen ein. Zwei Mädchen. Und sie setzen sich natürlich auf den freien Vierer neben mir.

Die Mädels, so um die 8–10 Jahre alt, unterhalten sich angeregt. Blödeln rum. Wollen etwas zu essen. „Darf ich meine Schwester schminken, Papa?“, fragt die Große. Ich verstehe seine Antwort nicht. „Aber ich habe eh Abschminktücher dabei“, entgegnet ihm die Große und schmollt. Ich sehe zu ihr hin und sie wirft mir ein verlegenes Lächeln zu.

Als wir in einen Tunnel einfahren, schreit die Kleine und hält sich die Ohren zu. „Aaaaah! Papa, ich halte das nicht mehr aaaaaauuuus!“ Sie hat ein nasses Taschentuch auf der Stirn. Vermutlich, weil verschlagene Ohren so schrecklich wehtun.

Den Mädels ist fad. Im Kinderkino läuft offensichtlich gerade nichts. Die Kleine will UNO spielen. Ihr Papa nicht, er sehnt sich wohl, wie ich, nach Entspannung. Die Kleine denkt laut. Sie ist davon überzeugt, dass bestimmt irgendjemand im Zug mit ihnen UNO spielen will. Ich muss mir auf die Lippe beißen, um nicht laut loszulachen.

Ich lasse es mit dem Transkribieren sein, weil ich mich kaum konzentrieren kann. Außerdem muss ich auf die Toilette. Ich bitte die drei, auf meine Sachen aufzupassen und es ist für sie eine Selbstverständlichkeit.

Als ich wieder an meinem Platz bin, bedanke ich mich mit Pick Up, die ich in meiner Handtasche habe.

Die Mädels strahlen und das Eis ist gebrochen. Süßigkeiten funktionieren immer.

„Wollen Sie mit uns Uno spielen?“ fragt mich die Große.

„Klar!“, lache ich und lade sie an meinen Tisch ein. Nein an meinen Tisch können sie nicht. Sie können ja nicht gegen die Fahrtrichtung sitzen, da wird ihnen schlecht. „Kein Problem“, sage ich. „Dann wechsle ich die Seite und ihr sitzt hier. Außerdem müsst ihr nicht ,Sie‘ zu mir sagen.“ Ich packe mein Zeug auf die andere Seite und setze mich anschließend selbst dorthin. Die Ladies nehmen gegenüber von mir Platz. Wir stellen uns einander vor. Sie haben beide wunderschöne Vornamen und sind 8 und 11 Jahre alt.

Ich warne sie. Dass ich überhaupt nicht verlieren kann und mit allen Mitteln versuchen werde, zu gewinnen. Und ich will die Spielregeln erklärt bekommen, denn mein letztes UNO-Spiel muss Jahre her sein. Wir mischen die Karten, die Große und ich, jeder einen Stapel. Die Große teilt aus.

Wir spielen und plaudern. Ich schreie einmal so laut „Uno!“, dass mich wohl der ganze Zug gehört haben muss. Diese Runde gewinne ich.

Wir unterhalten uns über Bücher. Ja, klar kenne ich „Die Tribute von Panem“ und „Die Bestimmung“. Die Lieblingsbücher der Großen. Und mit der Kleinen lache ich über die schlimmsten Flüche der Olchis. Sie liest das Buch gerade in der Schule. Schleime-Schlamm-und-Käsefuß! Oder so ähnlich.

Die Mädels sind so cool. Woher ich denn komme? Aus Klagenfurt. „Da gibt es den Lindwurm“, wirft der Vater ein. Ob man vom Lindwurmblut unsterblich wird, wenn man darin badet, fragt mich die Große. Sie interessiert sich für germanische und griechische Mythologie, mag Pferde und reitet auch. Ich kann mich nur noch vage an das Märchen vom Lindwurm erinnern, verspreche ihr aber, zu recherchieren.

Die Kleine spielt Geige und tanzt Zumba. Ob sie mir einen Tanz vortanzen darf? Selbstverständlich! Es folgt eine dynamische Choreographie aus der Zumbastunde. Dann performt sie einen selbsterfundenen Tanz. Der ist zwar nicht so streng durchchoreographiert, aber dafür umso leidenschaftlicher. Der Schlussteil besteht darin, mit angedeuteten Stierhörnern im Zug auf und ab zu laufen.

Ich lache mich fast weg. Der Vater und die Große versuchen, die Kleine etwas runterzuholen und sind schon etwas peinlich berührt. Ich hingegen kann nicht genug Action haben und feuere die Kleine an.

Die Zeit vergeht wie im Flug und wir sind gleich in Salzburg, wo wir alle raus müssen. Der Vater und die Ladies werden dort aussteigen und ich umsteigen, um nach Klagenfurt zu kommen. Wir packen unsere Sachen zusammen.

Zwei Minuten, bevor der Zug hält, passiert es.

Der Typ im gelben Kapuzenpulli steht auf, steuert auf den Vater zu, ruft Unverständliches und spuckt ihm aus eineinhalb Metern Entfernung mitten ins Gesicht.

Wir sind alle wie versteinert. Mein Herz fängt an zu klopfen. Keiner von uns versteht, was gerade passiert ist.

Der Vater schüttelt den Kopf, wischt sich die Spucke aus dem Gesicht. Dann fragt der den Typen im gelben Kapuzenpulli, was denn jetzt los sei.

Es folgt gereiztes Gemurmel. „Meine Eltern haben mich auch frei erzogen, aber das …“, ist das einzige, was ich raushören kann. Der Vater bleibt gelassen. Erklärt, dass es im Zug ein Ruheabteil gibt.

Wir müssen uns beeilen. Der Vater will ein Foto von dem Typen machen. Ich versuche, die Mädels Richtung Ausstieg zu treiben. Die Große wirkt betroffen, aber gefasst. Die Kleine fängt an zu weinen und mir zerreißt es fast das Herz. Als der Vater wegen dem Foto zurück will, stellt sie sich ihm in den Weg. Sie will nicht, dass ihr Papa zu diesem Mann zurückgeht. Sie weint noch mehr. „Bin ich schuld, Papa, bin ich schuld?“ Der Vater nimmt sie an den Schultern. „Hör mir zu. Du bist nicht schuld. Der Mann ist ganz alleine schuld und er hat das Problem. Aber alles müssen wir uns nicht gefallen lassen. Ich werde von draußen dann ein Foto machen. Durchs Fenster.“ Auch das will die Kleine nicht. Sie hat Angst. „Und wenn er dann rauskommt?“ Ich habe mittlerweile meine Fassung wieder gefunden. „Dann soll er es versuchen“, sage ich und langsam weicht meine Starre der Wut.

Du Typ im gelben Kapuzenpulli.

Ja. Wir alle haben manchmal das Bedürfnis nach Ruhe. Ja, wir alle sind oft schrecklich genervt von Babygebrüll und Kindergeschrei und Hundebellen. Ja, wir alle wissen oft nicht, ob wir etwas sagen oder runterschlucken sollen. Und ja, uns allen reißt manchmal der Geduldsfaden.

Aber nichts, wirklich nichts davon, rechtfertigt deine Reaktion. Du hast nicht den Vater bestraft, sondern zwei kleine Mädchen, die das mitansehen mussten. Wir waren im Abteil, in dem sich das Kinderkino befindet. Auch ohne hellseherische Fähigkeiten zu besitzen, muss man dort auch mit Kindern rechnen. Wir waren laut und wir waren übermütig. Alle drei. Besonders die Kleine und ich. Eigentlich hättest du mich anspucken sollen, ich war ja die Anführerin und Anstifterin. Aber in deiner freien Erziehung ist dir wahrscheinlich beigebracht worden, dass man keiner Frau etwas antut. Bei Kindern geht’s offensichtlich. Denn auch wenn es physisch war, es ist und bleibt Gewalt.

Für das nächste Mal: Du kannst auch einfach was sagen, ohne zu spucken. Am besten schon, während dir alle auf den Sack gehen, nicht erst hinterher. Macht man eigentlich so. Wird einem in der modernen Erziehung so beigebracht. Und wäre für uns alle cooler gewesen.

Ich habe dir jedoch auch viel zu verdanken. Du warst der perfekte Lehrmeister. Durch dich habe ich mich wieder daran erinnert, was echte Helden sind.

Ein Vater, der nicht besser hätte reagieren können. Ein Mann, der bis aufs Äußerste provoziert wird und keine Sekunde lang Aggression zeigt. Ein Mann, der sich seiner Vorbildfunktion sowas von bewusst ist. Der zu hundert Prozent hinter seinen Mädels steht. Alles tut, um ihnen schlechte Gefühle zu nehmen. Nicht mit Gewalt antwortet. Trotzdem nicht alles hinnimmt, Stärke und Souveränität zeigt.

Und das hat mich an meine eigene Helden der Kindheit erinnert. An einen Vater, der nie, aber auch kein einziges Mal aggressiv geworden ist. Nie die Hand erhoben hat, kein einziges böses Wort fallen gelassen hat. Es hat mich erinnert an meinen Bruder, der sich in unserer Kindheit so viele Gemeinheiten von mir gefallen hat lassen. Und mich trotzdem nie geschlagen oder sonst wie verletzt hat. Sondern selbst den kleinsten Geldbetrag oder Schokoriegel mit mir geteilt hat. An dieser Stelle möchte ich übrigens einmal offiziell sagen, dass es mir leid tut!

Zum ersten Mal ist mir hier und heute bewusst geworden, wie privilegiert ich in dieser Hinsicht aufgewachsen bin. Warum bei mir sofort die Alarmglocken schrillen, wenn ich bei anderen Menschen die kleinsten Anzeichen von Aggression entdecke – weil ich es schlicht nicht gewohnt bin und auch nicht dulde!

Aber woran ich mich auch erinnert habe, waren die Helden aus den Filmen und Märchen aus meiner Kindheit. Und weißt du, du im gelben Kapuzenpulli, was ich damals gelernt habe?

Es ist immer besser, sich für die Seite der Guten zu entscheiden.

Foto: Autorin

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